Lorenz Matzat hat vergangene Woche im Blog des Open Data Network den folgenden Versuch einer Definition vorgestellt. Wir veröffentlichen den Text mit freundlicher Genehmigung; er steht unter der Lizenz CC-by-sa/3.0/de. Matzat wird Gast eines Workshops beim Jahrestreffen des Netzwerks Recherche sein, dass am 9. und 10. Juli in Hamburg stattfindet. Den genauen Termin geben wir bekannt, soblad er feststeht.
Das Internet ist nicht arm an Buzzwords – Schlagworten, die für einige Zeit Konjunktur haben und sich eben etablieren oder wieder verschwinden. Data Driven Journalism (DDJ) geistert vermehrt seit vergangenem Jahr durch das Web. Im März 2009 startet die englische Tageszeitung The Guardian auf ihrer Website das Datablog; es ist eingebettet in einen Datastore und dürfte bislang als Referenz für DDJ gelten. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde das Thema „Datenjournalismus“ in Deutschland durch die Zeitschrift „M – Menschen Machen Medien“ im März 2010 näher gebracht. Im Periodikum des Fachbereichs Medien der Gewerkschaft ver.di mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren ging es um die „Spannende Recherche im Netz“.

Begonnen hat es allerdings schon 2006: Als eine Art Manifest in Sachen DDJ gilt der Text „A fundamental way newspaper sites need to change“ von Adrian Holovaty. Er meinte, dass viele Informationen bereits in einer strukturierten Form (=Datensätze) vorliegen oder sinnvollerweise in einer solchen abgelegt werden könnten. Als Beispiel nannte er einen Brand in einem Wohnhaus – es gäbe Fakten, die immer gleich sind – letztlich die berühmten W-Fragen: Wo, wann, wie viele Betroffene, Verletzte, Tote, wie viele Feuerwehrmänner waren im Einsatz etc.
Zeitungsredaktionen usw. könnten also Datenbanken über Ereignisse mit einer konsistenten Datenstruktur aufbauen, so Holovaty, die sowohl für die eigenen Recherche als auch online als Angebot für die eigenen Nutzer/innen bereitgehalten werden können – man denke beispielsweise an eine Karte, auf der sich die Feuer anzeigen lassen und eben nach diversen Kriterien Filtern lassen.
Was ist also das Neue am Daten-getriebenen Journalismus?
Die Recherche in Datensätzen, etwa Statistiken, ist wahrlich nichts Neues. Das gilt auch für die rechnergestützte Recherche, das Computer-assisted-reporting (CAR), welches seit Jahrzehnten praktiziert wird.
Dagegen ist DDJ eine Kombination aus einem Recherche-Ansatz und einer Veröffentlichungsform: Ein oder mehrere maschinenlesbare Datensätze werden per Software miteinander verschränkt und analysiert – damit wird ein schlüssiger und vorher nicht ersichtlicher informativer Mehrwert gewonnen. Diese Information wird in statischen oder interaktiven Visualisierungen angeboten und mit Erläuterungen zum Kontext, Angaben zur Datenquelle (bestenfalls wird der Datensatz mit veröffentlicht) versehen. Letztere wird ggf. kommentiert (in Schrift, Ton oder Bewegtbild). Liegen die Daten nicht maschinenauswertbar vor (z.B. hundertausende Emails) können die User aufgefordert werden, die Recherche weiter mit voranzutreiben (“Crowdsourcing”, siehe bspw. “Investigate your MP’s expenses“).
Der Wandel der Journalistenrolle
DDJ setzt voraus, dass der Journalist/die Journalistin bereit ist, seine oder ihre Recherchequelle mit dem Konsumenten des Beitrags zu teilen. Die Quelle wird überprüfbar, aber auch weiterverwendbar. Diese Form der Ermächtigung des Nutzers findet sich im Prinzip von Creative Commons, aber auch dem Open Access-Ansatz in der Wissenschaft wieder; dort wird es üblich, auch die Datenbasis der Forschung parallel zum Forschungsergebniss zu veröffentlichen (was z.B. die Qualität von Peer-Reviewing steigern kann).
Weiter müssen Datenjournalisten nicht nur offen für technologische Aspekte des Web sein, sondern sie auch beherrschen. Datenrecherche meint vielleicht auch, Daten zu erlangen, die erstmal gar nicht für die Öffentlichkeit gedacht sind. „Data-Mining“ und das „scrapen“, das Ausschaben von Websites, um an Rohdaten zu gelangen, sind hier die entsprechenden Stichworte. Die Journalisten selbst sollten also Programmierkenntnisse erlangen („computer literacy“) und/oder Redaktionen sollten Programmierer anheuern.
Grenzfälle
Debattieren ließe sich, inwieweit Datenvisualisierung Teil von DDJ ist. Das Metier der Produktion von Infografiken ist erstmal kein neues Feld; ob rein statische Visualisierungen von Daten (Balkendiagramme und Co.) direkt zu DDJ zählen, dürfte davon abhängen, ob andere Kriterien von DDJ erfüllt sind (etwa die Veröffentlichungen von Datenquellen). Dagegen sind interaktive Grafiken, Mashup-Karten uä. sicherlich schon eher DDJ.
Aber ist es noch Journalismus, wenn es keinen Journalisten mehr gibt, sondern eine rein automatisierte Websoftware Datenbanken abfragt, bearbeitet und dann wiedergibt? Manche zählen Projekte von mySociety.org (etwa TheyWorkforYou.com) oder Frankfurt gestalten zum DDJ. Wo verläuft die Grenze zwischen Informations-Dienstleistung und Berichterstattung? Vielleicht könnte man hier von „Maschinen-Journalismus“ sprechen.
Mehrwert
Datenjournalismus fußt also auf den Prinzipien einer freien und offenen Netzkultur: Freier Zugang zu Wissen, das Teilen von Informationen und der Zusammenarbeit. Die automatisierte Erschließung, Auswertung und Aufbereitung von den teilweise monumentalen Datensätzen aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft (Stichwort OpenData) kann qualitativen Mehrwert bieten: Das Verständnis von und die Berichterstattung über Gesellschaft und Natur erweitern. Oder Zusammenhänge aufzeigen, die vorher nicht ersichtlich waren. Welche Rolle Daten in Sachen investigativem Journalismus spielt, muss angesichts des erfolgreich Projekts Wikileaks hier nicht weiter ausgeführt werden.
Weiter kann DDJ sowohl dem Rechercheur als auch dem User einfach zu bedienende Werkzeuge an die Hand geben, mit denen sich besagte Datenquellen durchdringen lassen. Und DDJ kann webgestützt eine kollektive, eine kolloborative Recherche organisieren, falls Software (noch) nicht Datenbestände sinnvoll auswerten kann..
Mit DDJ wird sich jedenfalls die Rolle von (manchen) Journalisten weiter wandeln. D.h, aber auch, dass das anhaltende Hadern der etablierten Medien mit dem Netz weitergehen wird. Denn das hat einiges mit dem Selbstverständnis ihrer Macher zu tun. Die digitale Demokratisierung der Produktionsmittel von Medien stellt die Positionen des klassischen Journalisten in Frage – das tritt im Streit Blogger versus „echter“ Journalist anhaltend zutage.
Dabei geht es schlicht um ein zentrales Element der jetztigen Gesellschaft: Informationshierarchie – wer kann Informationen zurückhalten, wer hat die Deutungshoheit über das, was geschieht. Und wer kann seine Deutung mit größtmöglichster und weitreichenster Autorität verbreiten.

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