Die Bundesregierung hält ihre Hartz-IV-Politik für so unpopulär, dass sie beim Bekanntwerden interner Dokumente mit neuen Protesten rechnet. Weil die Mitglieder der Bundesregierung, des Berliner Senates sowie die Richter am Bundessozialgericht dann „einem erheblichen öffentlichen Druck ausgesetzt wären, dem sie in dieser Form üblicherweise (…) nicht ausgesetzt sind“, sollen die Dokumente unter Verschluss bleiben, heißt es in einem Schreiben des Bundesarbeitsministeriums. Mit dieser Begründung lehnte das Ministerium einen Antrag gemäß Informationsfreiheitsgesetz ab, mit dem ich Einblick in eine Klageschrift der Bundesregierung zu einem Prozess gegen das Land Berlin vor dem Bundessozialgericht haben wollte.
Es geht dabei um Zwangsumzüge für Hartz-IV-Empfänger: Wie schnell muss jemand, der arbeitslos geworden ist, in eine billigere Wohnung umziehen? In § 22 des Sozialgesetzbuches II heißt es, die Kosten für die bisherige Wohnung werden vom Jobcenter so lange bezahlt, wie es „nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken“. Dabei gibt das Gesetz auch einen Anhaltspunkt für den Zeitraum vor: Die höheren Kosten für die bisherige Wohnung sollen „in der Regel jedoch längstens für sechs Monate“ übernommen werden.
Die rot-rote Landeskoalition in Berlin lehnt Zwangsumzüge politisch ab und versucht, sie im Rahmen der Umsetzung des Bundesrechts möglichst zu vermeiden. Dabei argumentiert der Senat auch finanziell: Schnelle Zwangsumzüge würden sich für das Jobcenter oft überhaupt nicht lohnen. Schließlich muss das Jobcenter auch das Umzugsunternehmen bezahlen und die doppelte Miete für den Umzugsmonat. Die dadurch entstehenden einmaligen Kosten amortisieren sich zwar langfristig durch die Einparungen bei der Miete – aber das gilt nur, wenn die Hartz-IV-Bezieher auch langfristig auf Hartz IV bleiben.
Der Senat argumentiert aber: Wenn ein Hartz-IV-Bezieher kurz nach seinem Umzug einen Job findet, dann hat sich der Umzug finanziell für den Staat nicht gelohnt. Denn das Jobcenter hat zwar alle Kosten für den Umzug zu tragen, profitiert aber nur kurze Zeit von der niedrigeren Miete in der neuen Wohnung. Außerdem habe der Hartz-IV-Bezieher mehr Zeit für die Jobsuche, wenn er nicht parallel noch seinen Umzug in eine billigere Wohnung organisieren müsse. In den Ausführungsvorschriften hatte Berlin daher festgelegt: Die Wohnkosten „werden zunächst für die Dauer eines Jahres ab Beginn des Leistungsbezuges in tatsächlicher Höhe übernommen“.
Der Bund aber rechnete anders. Seiner Ansicht nach hätte es Geld gespart, wenn das Land Berlin die Hartz-IV-Empfänger zu schnelleren Umzügen gezwungen hätte. Und weil die Kosten der Miete zwischen Bund und Kommune aufgeteilt werden (der Bund zahlt etwa zwei Drittel), verklagte der Bund das Land Berlin vor dem Bundessozialgericht auf Erstattung seines Anteils der angeblich zu viel gezahlten Mietkosten – gut 47 Millionen Euro.
Mich hätte nun interessiert, wie die Berechnungen des Bundes aussehen, mit denen er die Berechnungen des Landes Berlin angreift. Wer hat recht? Welches ist der wirtschaftlichste Zeitpunkt für Zwangsumzüge? Daher stellte ich im Februar 2009 beim Bundesarbeitsministerium einen Antrag nach Informationsfreiheitsgesetz, um die Klageschrift einzusehen.
Das Arbeitsministerium – damals noch unter Olaf Scholz (SPD) – wies den Antrag ab. Es berief sich damit auf einen der vielen Ausnahmetatbestände im Informationsfreiheitsgesetz. Dort heißt: „Der Anspruch auf Informationszugang besteht nicht, wenn das Bekanntwerden der Information nachteilige Auswirkungen haben kann auf (…) die Durchführung eines laufenden Gerichtsverfahrens“. Nachdem ich den Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit einschaltete, prüfte das Ministerium meinen Antrag noch einmal seeeeeehr intensiv (so lange, bis sogar die Bundestagswahl vorbei war) und schickte dann eine ausführliche Begründung (PDF, 8 Seiten, 2,5 MB).
Das Ministerium bittet den Bundesdatenschutzbeauftragten zunächst um „vertrauliche Behandlung“ des Schreibens und führt dann aus, das Gerichtsverfahren betreffe ein „politisch sehr sensibles Thema“:

Dieses Thema war schon vor einigen Jahren Gegenstand einer heftigen politischen Kontroverse um die sog. Hartz-IV-Gesetze. In zahlreichen, nicht zuletzt von der Partei Die Linke organisierten Demonstrationen wurde versucht, außerparlamentarischen Druck auf die politischen Entscheidungsträger aufzubauen. Die ausgesprochen emotionalisiert geführte öffentliche Debatte dürfte einen nicht unerheblichen Einfluss auf das Scheitern der damaligen rot-grünen Koalition und die Durchführung vorzeitiger Neuwahlen gehabt haben. (…)
Damit ist offensichtlich, dass der Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens in hohem Maße die Gefahr mit sich bringt, dass das Verfahren vor dem Hintergrund der damaligen Kontroversen über die Hartz-IV-Gesetze politisiert geführt wird. Umso notwendiger ist es, das Gerichtsverfahren von den Gefahren einer Einflussnahme durch eine hoch emotionalisierte Debatte freizuhalten und nach den sachlichen Kriterien eines allein Recht und Gesetz verpflichteten Gerichtsverfahrens zu orientieren. (…).
Vor diesem Hintergrund ist es nach meiner Einschätzung naheliegend, dass im Falle einer Veröffentlichung der Argumente des Bundes aus der Klageschrift (ebenso wie der Gegenargumente des Landes) durch die TAZ und den für diese arbeitenden Herrn Heiser Gefahren für die Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit der mit der Sache befassten Mitglieder des Bundessozialgerichts entstehen.
Das Verfahren und die in seinem Rahmen vorgetragenen Argumente würden nicht nur gleichsam zum Gegenstand einer Bewertung durch die öffentliche Debatte gemacht, was einen der Direktübertragung aus dem Gerichtssaal nahe kommenden Effekt erzielen könnte – einen Effekt, den der Gesetzgeber aus gutem Grund im Interesse der Unabhängigkeit und Unbefangenheit der richterlichen Entscheidungsträger ausgeschlossen hat.
Vor allem bestünde die naheliegende Gefahr, dass das Verfahren zum Anlass genommen würde, um den Versuch zu unternehmen, an einzelnen Aussagen aus den gewechselten Schriftsätzen eine erneute öffentliche Debatte über die Hartz-IV-Gesetze zu entzünden und so die Auseinandersetzung gleichsam aus dem Gerichtssaal auf die Straße zu verlagern. Käme es hierzu, so wäre die Folge, dass alle Beteiligten des Verfahrens – insbesondere auch die hiermit befassten Richter – einem erheblichen öffentlichen Druck ausgesetzt wären, dem sie in dieser Form üblicherweise auch als Richter eines obersten Bundesgerichts nicht ausgesetzt sind.

Auch der Bundesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit sah im Ergebnis, dass sich die Gefahr einer Beeinflussung des Gerichts nicht ausschließen lässt (und schon die Gefahr reicht aus, es muss nicht z.B. überwiegend wahrscheinlich sein, dass die Gefahr auch eintritt). Auch er sieht daher nicht, dass ich einen Anspruch darauf hätte, eine Kopie der Klageschrift zu bekommen.
Die Schwächen der Informationsfreiheit
Meines Erachtens zeigt der Vorgang einmal mehr die Schwäche des Informationsfreiheitsgesetzes im Vergleich zum presserechtlichen Auskunftsanspruch nach § 4 der Landespressegesetze. Der Auskunftsanspruch nach dem Informationsfreiheitsgesetz ist durch eine Reihe von Generalklauseln beschränkt, die recht großzügig formuliert sind. Und sobald eine dieser Klauseln greift, ist eine Auskunft nicht mehr möglich. Eine Abwägung findet nicht statt – weil die Informationsfreiheit keine Ausprägung eines Grundrechts ist, sondern ein quasi gnadenhalber vom Gesetzgeber gewährtes Recht, das nach Belieben eingegrenzt oder ausgeweitet werden kann. Beim Presserecht haben Journalisten hingegen immer noch einen Joker in der Hand: Sie können sich auf die Meinungs- und Pressefreiheit berufen – also auf ein Grundrecht, das nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes geradezu konstituierend für die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist.
Beim Presserecht würde das Informationsinteresse der Öffentlichkeit abgewogen werden mit dem Interesse des Bundesarbeitsministeriums an einer Geheimhaltung seiner Argumentation. Die Auswirkungen zeigen sich besonders gut in diesem Fall, in dem die Bundesregierung anführt, ein Bekanntwerden ihrer Position könnte zu hohem öffentlichen Unmut und zu Protesten führen. Beim Informationsfreiheitsrecht ist das ein Argument gegen die Veröffentlichung. Beim Presseauskunftsrecht wäre dies ein Argument für das hohe Informationsinteresse der Öffentlichkeit – und damit ein Argument für die Veröffentlichung.
Das Gerichtsurteil
Am 15. Dezember 2009 fällte das Bundessozialgericht sein Urteil: Es konnte die Berechnung des Bundes, der gut 47 Millionen Euro wollte, nicht nachvollziehen. Das Gericht rügte den Bund, er habe zwar eine „statistische Auswertung übersandt“, aber „weiteres für die Schadensermittlung relevantes Material haben die Beteiligten trotz gerichtlicher Aufforderung nicht vorgelegt“. Das Gericht kam jedenfalls bei seiner Berechnung nur auf einen Schaden von 13,1 Millionen Euro für den Bund: Es ging davon aus, dass die Mietkosten in der Realität durch Zwangsumzüge lediglich um diesen Betrag gesunken wären. Die Argumentation des Landes Berlin, wonach durch Zwangsumzüge auch zusätzliche Kosten entstehen und ein Abwarten sich amortisiert, spielte für das Verfahren keine Rolle. Die Frage, ob schnelle Zwangsumzüge sich eigentlich lohnen, ist also nach wie vor ungeklärt. Zumindest, wenn man die Frage unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet. Unter politischen Gesichtspunkten dagegen ist auch dem Bundesarbeitsministerium klar, wie unpopulär seine Position ist.
Wie Journalisten ihre Auskunftsrechte nach Pressegesetz, Informationsfreiheitsgesetz, Umweltinformationsgesetz oder Grundbuchordnung nutzen können, ist mit einer Reihe von Beispielen in dem Reader Auskunftsrechte kennen und nutzen – So kommt man an Aktenschätze erläutert.

4 Comments

  1. Hartz-IV-Empfänger etc. sollen also in Ghetos zusammengepfercht werden und das, wenn´s geht also auch noch stillschweigend. Das hatten wir doch schon mal so in der Art.
    Ich finde diese Vorgehensweise unverschämt und dreist.

  2. Klasse Artikel. Manchmal sind die so dreist. Da fehlen einem echt die Worte.

  3. Also ich finde diesen Artikel einfach nur noch klasse. Habe ihn gleich mal meinen Mann zum lesen gegeben.

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